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documenta

Aktualisiert: 5. Juni 2018

René Böll

Und wir malen einfach weiter

Dokumenta 11: Der Salon von Kassel oder: Wer bestimmt die Aufgabe der Kunst ?


Im Vorfeld ist vieles über die Documenta und die vier vorbereitenden Foren berichtet worden, so dass wohl niemand unvoreingenommen zur Documenta geht. Ich denke, man sollte trotzdem versuchen, genau das zu tun. Einfach festzustellen, was sehe ich dort - nicht, was weiß ich, was werde ich sehen. Ich habe das versucht, so schwierig es auch sein mag.

Im 19. Jahrhundert zeigte der jährliche "Pariser Salon" die, wie man heute sagen würde, "angesagten" Künstler. Wer dort ausstellte, gehörte dazu. Die Funktion dieses Salons kann man sehr gut mit der Rolle der Documenta vergleichen, weil auch sie fast ausschließlich Künstler und Kunstrichtungen zeigt, die von der allgemeinen Kritik, den Galerien und Museen akzeptiert werden.

Denn: Experimentell und modern, wie sie zu sein scheint, ist die Documenta keineswegs, sind doch die Vielzahl der ausgestellten Kunstrichtungen auch schon jahrzehntealt. Vieles auf der Documenta, die ja einmal eine wirkliche Vorreiterrolle spielte, wirkt auf mich altbacken und ist künstlerisch und politisch den 68ern verbunden. So frage ich mich: Was heißt überhaupt modern? Wer definiert das? Bestimmen alleine die Materialien oder die Technik, was modern ist?

Politisierung

Die Kunst auf der Documenta muss offensichtlich einen politischen oder gesellschaftskritischen Hintergrund haben. Für mich dagegen muss Kunst keinen "Sinn" haben, keine Aussage machen. Sie ist "schlicht" Bestandteil des Lebens. Viele "Begründungen" im Katalog der Documenta für die ausgestellten Werke wirken auf mich wie Entschuldigungen und geschwätzige Rechtfertigungen für die "unerhörte" Tatsache, dass man überhaupt noch Kunst macht - statt ohne Umwege gleich am Klassenkampf oder anderen Kämpfen aktiv teilzunehmen. Ich weiß, das ist polemisch und mag manchen Künstlern und Künstlerinnen Unrecht tun, aber ich rede von meinen Eindrücken: Bei der Documenta ist eindeutig der Inhalt von Kunst wichtiger als ihre Form. Und was soll an dieser Kunstauffassung "modern" sein? Dabei sollten Inhalt und Form mindestens gleichwertig sein, für mich persönlich ist darüber hinaus allein der künstlerische Aspekt ausschlaggebend.

Kasten 1

Aus dem Vorwort von Okwui Enwezor

"Fast fünfzig Jahre nach ihrer Gründung sieht die Documenta sich erneut mit den Gespenstern einer unruhigen Zeit fortwährender kultureller, gesellschaftlicher und politischer Konflikte, Veränderungen, Übergänge, Umbrüche und globaler Konsolidierungen konfrontiert. Wenn wir diese Ereignisse in ihrer weitreichenden historischen Bedeutung bedenken und ebenso die Kräfte, die gegenwärtig die Wertvorstellungen und Anschauungen unserer Welt gestalten, wird uns gewahr, wie schwierig und heikel die Aussichten der aktuellen Kunst und ihre Position bei der Erarbeitung und Entwicklung von Interpretationsmodellen für die verschiedenen Aspekte heutiger Vorstellungswelten sind.

Wie können wir diese rapiden Veränderungen verstehen, die nach neuen Ideen und Modellen für ein transdisziplinäres Handeln im globalen öffentlichen Raum unserer Zeit verlangen? Die brisante Aufgabe einer sinnvollen Artikulierung der Möglichkeiten, die der Kunst in einem solchen Klima offen stehen, und der disziplinäre, räumliche, zeitliche und historische Druck, dem sie ausgesetzt ist, bilden den Rahmen der diagnostischen Prozesse und Debatten, in dem die Documenta11 ansetzt. Das Grundkonzept der Documenta11 beruht auf der Formulierung einer Abfolge von fünf Plattformen in Form von öffentlichen Diskussionen, Konferenzen, Workshops, Büchern, Film- und Videoprogrammen, die versuchen, den gegenwärtigen Ort der Kultur und ihre Schnittstellen mit anderen komplexen globalen Wissenssystemen zu beschreiben. Die fünf Plattformen greifen eine Reihe von Fragen auf, die für das intellektuelle Projekt der Documenta11 von zentraler Bedeutung sind. Von der Plattform 1. Demokratie als unvollendeter Prozess über die Plattform 2. Experimente mit der Wahrheit: Rechtssysteme und Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung sowie die Plattform 3. Créolité und Kreolisierung und die Plattform 4. Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte – Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos bis hin zur Plattform 5, der Ausstellung selbst, verfolgt die Documenta ihre grundlegende Intention, den Horizont der kritischen Diskussionen im gegenwärtigen Kunstdiskurs zu erweitern."

Aus dem Vorwort von Okwui Enwezor (vgl. Auszug im Kasten 1) wird deutlich, welche Aufgabe der Documenta zugewiesen wird: es geht darum, Kunst zu funktionalisieren, sie politisch nutzbar zu machen, es geht nur am Rande darum, künstlerische Qualität an sich zu zeigen. Es mag ja irgendwo einen Sinn machen, die Kunst auch in ihren politischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen zu betrachten, selbstverständlich sollte es auch für diese Bemühungen einen Ort geben – nur: Ist das modern? Ist das repräsentativ für die Kunst unserer Zeit? Hat das so überwiegend, wie die Documenta es macht, überhaupt noch etwas mit Kunst zu tun? Ich meine, dass Kunst so zur bloßen Illustration von Politik und Soziologie verkommt, mehr noch: sie ist zuweilen nur noch Beiwerk von political correctness.

In anderen Zeiten war Kunst meistens von den Mächtigen, von der Kirche, von Gönnern und Auftraggebern abhängig. Hat sich im Grunde daran nicht viel geändert, sind nur die Auftraggeber andere geworden?

Heute scheint mir der "politisch-soziologische Diskurs" die Kunst in seine Dienste zu stellen, nur vielleicht mit dem feinen Unterschied zu früher, dass dabei oft gar keine Kunst mehr herauskommt. Ist die Kunst wirklich freier geworden?

Sicher gilt, was ich hier feststelle, nicht für die ganze Documenta, aber mein Eindruck, dass Kunst fast nur noch in Funktion auf Politik und Wissenschaft ihre Geltung haben soll, ist doch überwältigend. Das Resultat macht traurig: das alles führt gleichzeitig zur fast völligen Beliebigkeit des künstlerischen Ausdrucks.

Vielleicht führt dieser Weg zu einem ökologischen, politisch korrekten sozialkritischen Realismus, einer neuen Spielart des sozialistischen Realismus, der neben der nicht zufällig ganz ähnlichen Kunst der Nazizeit mit zu den schlechtesten Wegen der Kunst zählt.

Das ist schade und schien doch endlich überwunden. "Moderner" denn je ist für mich der unübertroffene Oscar Wilde: "Alle Kunst ist gänzlich nutzlos", oder: "Ein großer Künstler sieht die Dinge niemals so, wie sie sind. Wenn er sie so sähe, wäre er kein Künstler mehr." Und: "Man kann die Kunst auf doppelte Weise hassen: Erstens, indem man sie hasst. Zweitens, indem man sie in den Grenzen der Vernunft liebt." Schließlich: "Es gibt weder moralische noch unmoralische Bücher. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben, nichts sonst."

Pour l’art pour l’art

Ich bin ein Anhänger des l'art pour l'art, das sich stets so definierte:

man sagt sich von den Geschmacksvorstellungen des breiten Publikums und der herrschenden Kritik los, und man bestreitet, dass Kunst eine gesellschaftliche Verantwortung hat, man dient "selbstgenügsam" der eigenen Einbildungskraft und der Schönheit, die in allem verborgen ist.

Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Ein Kunstwerk muss mich berühren, bewegen – es soll mich nicht "aufklären", "belehren", schon gar nicht indoktrinieren, kurz neudeutsch: Es braucht keine message!

Dagegen noch einige Beispiele aus den Katalogtexten (vgl. Kasten 2).

Kasten 2

Zu Ravi Agarwal:

"1996 gründete Agarwal seine eigene Organisation, Toxics Link, ein von der Gemeinde betriebenes Informationsnetzwerk, das sich speziell mit dem Sammeln und Verbreiten wissenschaftlicher Daten zu Fragen des städtischen Müllmanagements befasst. Indem Agarwals Fotografien seine fotojournalistische Praxis in den erweiterten Kontext seiner Tätigkeit als Umweltschutzaktivist rücken, wenden sie sich an ein Publikum außerhalb Indiens – vor dem Hintergrund zunehmender ökologischer Probleme durch die Verflechtungen des international boomenden Giftmüllhandels und seiner Gewinnerzielungsstrategien."

Zu Feng Mengbo:

"Fengs radikal neuer Ansatz, männliche Subjektivität durch simulierte Gewalt und Fantasiespiele zu konzeptualisieren, bietet das Potential zur veränderten Wahrnehmung intersubjektiver Beziehungen. Er riskiert aber auch Opfer vorgefasster Interpretationen von Realität und voreingenommener Meinungen zu werden. Der spielerische Umgang mit Formen hedonistischer Selbstdarstellung situiert Q4U an vorderster Front einer kulturpolitischen Herausforderung, die von Computerspielen ausgeht, denn die den Spielen zugrunde liegenden Gestaltungsprinzipien sind auch für Netzwerkanwendungen in der Wirtschaft und für die Lerntheorie von Bedeutung. Individuelle Wahl und Urteilsbildung formen neue gesamtgesellschaftliche Ergebnisse und fördern neue Möglichkeiten der Gemeinschaftsbildung, gegründet auf einer "gesunden" Wettbewerbsfähigkeit und der Potenz virtueller, internetbasierter Gruppierungen."

Zu Thomas Hirschhorn:

"Thomas Hirschhorn ist ein Umgestalter der Condition humana. Unzufrieden mit den aufgezwungenen Definitionen und Beschränkungen einer hyperkapitalistischen, multinationalen Globalisierungsrhetorik, macht er sich das kommunikative Potential des Denkens zunutze. Sein Werk, in dem der materielle Wert hintangestellt ist, umfasst skulpturale Modelle, die vornehmlich aus billigen Produktverpackungsmaterialien der Konsumgüterindustrie – Alufolie, Plastik, Karton und Sperrholz – gefertigt sind. Die Begierden des Kapitalismus werden damit in einen Zustand dauerhafter kreativer Anarchie überführt. Während die "direkten Skulpturen" im Museumsraum gezeigt werden, befinden sich Hirschhorns "Altäre", "Kioske" und "Denkmale" an vergänglichen, verwahrlosten öffentlichen Plätzen. Als temporäre Ausstellungscontainer akkumulieren sie einen Reichtum an visuellen Materialien aus Mode, Kunst, Politik und Philosophie und Spiegeln so die duale Herrschaftsform der Waren- und Wissensproduktion. Sie verbinden, was keinen sichtbaren Zusammenhang aufweist – ein verschönerndes Werbeplakat für Chanel-Mode und eine schreckliche, doch zugleich vertraute Szene aus dem Zweiten Weltkrieg (Les plaintifs, les bêtes, les politiques; Die Ankläger, die Mitläufer, die Politischen, 1994/94 – und verfolgen damit das utopische Ideal der Gedankenfreiheit"

Schön und gut, denkt der Bewohner des Elfenbeinturms, das muss es geben, das ist wichtig, der "einfache" und gesellschaftlich nutzlose Maler, wie ich es bin, muss ja nicht gleichzeitig ein verantwortungsloser Mensch sein. Aber das, nebenbei gesagt, haben moralisierende Oberlehrer und politische Wanderprediger noch nie verstanden.

Nur: Ich habe das Gefühl, die Ausstellungsmacher der Documenta glauben, sich entschuldigen zu müssen, dass sie überhaupt Kunst ausstellen, wo es doch so viele dringendere Probleme zu lösen gibt und es immer klarer wird, dass sich nicht nur eine Klimakatastrophe auf der Welt anbahnt, sondern dass auch viele andere soziale und politische Konflikte und wohl auch kriegerische Auseinandersetzungen unmittelbar bevorstehen. Auch wir Künstler leben ja in und auf dieser Welt, die Frage ist nur, wie soll oder muss der Künstler überhaupt darauf reagieren? Wer legt diese Maximen fest ? Wenn schon apodiktische Kunst-Maximen, dann jedenfalls nicht so platt, wie das bei vielen der Arbeiten auf der Documenta geschehen ist.

Es gibt genug Konferenzen und Seminare weltweit, in denen politische und ökologische Probleme aufgearbeitet werden, wir Menschen müssen nicht noch mit dem ideologischen Holzhammer bearbeitet werden. Die Künstler früherer Zeiten haben ja auch mit ihren Medien auf ihre Zeit reagiert, aber doch auf einem ganz anderen Niveau, ich erinnere nur an Goyas "Desastros de la Guerra".

Für mich spricht aus dem Gesamten der Documenta leider eine uralte Kunstfeindlichkeit in platonischer oder christlicher oder marxistischer Tradition, eine ausgesprochen calvinistisch anmutende Bilderfeindlichkeit. Nur sollte, wer bilderfeindlich ist, vielleicht nicht gerade eine Documenta ausrichten.

Kunstfeindlichkeit

Ich wünschte mir eine Rückkehr zu den Farben, zur Freude an Kunst und Malerei, zur Kunst als Beruf, zum Spaß am Malen. Mir fehlt sehr die Sinnlichkeit der Kunst, und die gibt es auch heute noch, sie ist nur kaum auf der Documenta vertreten. Es wird dagegen oft verkrampft nach einer intellektualistischen Rechtfertigung für Kunst gesucht. Kunst bedarf meiner Ansicht nach keiner Rechtfertigung. Sie gehört einfach zum Leben.

Mir fehlt auf der Documenta der "Spaßfaktor", das Gefühl der Freude an Kunst, das jedes Kunstwerk ausdrückt, egal, ob das eine ostasiatische Tuschmalerei, eine Buchmalerei des Mittelalters, ein van Gogh, ein Turner oder ein Expressionist ist.

Auf der Documenta wird einem als Maler suggeriert, etwas quasi Unanständiges zu tun, wenn man noch mit Farben arbeitet, aber es gibt nun mal kein besseres Medium, vielleicht von den modernen Glasfenstertechniken abgesehen, um Farbe zu verwenden.

Es werden fast keine gemalten Bilder gezeigt, wenn Malerei, dann müssen es wohl Folterungen sein wie beispielsweise bei Leon Golub – Zitat dazu aus dem Katalog:

"Leon Golub entwickelte eine politisch engagierte ästhetische Praxis, weil er die seiner Meinung nach hermetischen Formalismen des abstrakten Expressionismus ablehnte, welche die amerikanische Nachkriegskunst dominierten. Mehr als fünf Jahrzehnte lang untersuchte Golub die gewaltgeprägte Peripherie einer Gesellschaft, die von Bildern dominiert wird. Das Ergebnis setzte er in Gemälde um, deren lädierte Oberflächen eine beunruhigende visuelle Faszination ausüben. Die beschädigten Leinwände, die er konventionell mit Lack- und Acrylfarben bemalt, anschließend jedoch mit Lösungsmitteln und Metzgerbeilen bearbeitet, sind Monumente der Konfrontation mit Ideologien, die das Individuum manipulieren und oft sogar auslöschen".

Ein anderes Beispiel: wird ein einziges, sehr schönes Bild von Constant gezeigt, so offenbar nur, um zu zeigen, dass er sich ab den 70er Jahren wohl mit etwas Besserem und Wichtigerem als der Malerei, nämlich der Stadtplanung, beschäftigt hat. Dass er sich aber seit 1974 (!) wieder der Malerei zugewendet hat – das wird nicht gezeigt. Na ja, und die Gründung einer Aktiengesellschaft durch Maria Eichhorn ist seit den Fluxus Zeiten nicht gerade der allerneueste Einfall.

Es fehlt hier der Platz, um die zahlreichen Beispiele zu bringen, die von politischer Vereinnahmung und insgeheimer Kunstfeindlichkeit der Documenta 11 sprechen. Die Beispiele zeigen vielleicht auch, dass die Documenta wohl kaum repräsentativ für die gegenwärtige Kunst ist. Die Documenta repräsentiert einen gewissen, intellektualistischen mainstream in Kunstkritik und -Markt, aber kaum das wirkliche künstlerische Arbeiten unserer Zeit. Man könnte es tragisch finden zu sehen, dass "unser westliches instrumentelles Denken" weltweit auch in der Kunst seinen Triumph feiert. Auch das zeigt die Documenta. Aber das ist gottlob nicht repräsentativ – so wie ein Maler-Freund kürzlich meinte: Und wir malen einfach weiter.

Drang nach Banalitäten

Es scheint auch einen merkwürdigen Drang nach Banalitäten zu geben, so als ob viele Menschen nicht das Gefühl haben, wirklich zu leben, so, als ob das banale das einzig Reale wäre. Dies manifestiert sich für mich in einer sehr großen Zahl der ausgestellten Arbeiten: Beispielsweise in Dieter Roths Installation mit 30 gleichzeitig laufenden 8 mm Filmen, die Szenen aus dem Leben des Künstlers zeigen.

Ich habe mir den Spaß erlaubt, einigen Lehrerinnen zuzuhören, die den Kindern die Kunstwerke erklären mussten. Eine Lehrerin fragte die Schüler: Was seht Ihr in Dieter Roths Installation "Große Tischruine", die sein Atelier als Installation zeigt? Ein kleiner Junge, vielleicht 8 oder 9 Jahre alt, sagte: "Der hat sein Zimmer nicht aufgeräumt". Und genau das ist auch zu sehen. Das erinnerte mich an Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: auch hier sieht der kleine Junge als einziger, was es wirklich zu sehen gibt: Der Kaiser ist nackt.

Viele Ateliers sehen so oder ähnlich aus, ich kenne das Bedürfnis vieler Menschen, den Arbeitsplatz eines Künstlers zu sehen und zu versuchen, nachzuvollziehen, wie ein Kunstwerk entsteht, auch ich sehe gerne Ateliers von Kollegen. Aber ist schon das Atelier an sich ein Kunstwerk ?

Es ist rührend zu sehen, wie die Menschen geduldig Schlange stehen und sich auch eifrig bemühen, etwas zu sehen, wo es nichts zu sehen gibt. Dies ist mir u.a. bei den Arbeiten von Gabriel Orozco aufgefallen, die im Katalog so beschrieben werden: "Orozcos formaler Minimalismus lässt sich weder in die Dichotomie kritisch versus affirmativ noch in die des Phänomenologischen versus des Konzeptionellen oder die des Kulturellen versus des Natürlichen einordnen, vielmehr fallen seine stillen Skulpturen in eine Kategorie, die sich jenseits der Grenzen von Denken und Interpretation befindet."

Allein diese Katalogsprache sagt nichts, ist unfreiwilliger Nonsens. Ein Besucher sagte zur Führerin: "Wenn's mir nicht erklärt worden wäre, wäre ich einfach daran vorbeigegangen." Genau das ist der Punkt: viele der Dinge, die dort zu sehen sind, müssen erst zur Kunst erklärt werden, für sich alleine stehen sie nicht. Man sollte einmal den Test machen, neben eine der Installationen einen Rembrandt zu hängen oder eine der kaum mehr als postkartengroßen Silberstiftzeichnungen, wie sie kürzlich im Rubenshaus in Antwerpen oder in der Ausstellung über van Eyck in Brügge gezeigt wurden, um zu zeigen, was sich behauptet. Oder auch ein gutes – politisch vielleicht nicht korrektes Bild – von einem modernen Maler, die es auch heute noch in der Welt gibt und die es wert sind, gezeigt und gesehen zu werden, auch wenn die Rubens und Rembrandt vielleicht auf immer unerreichbar bleiben werden.

Erfreuliche Überraschungen

Eine erfreuliche Überraschung jedoch waren für mich die Videoinstallationen von Shirin Neshat (Iran/New York), sie zeigen, was eine großartige poetische und monumentale Videoinstallation mit entsprechender Musik sein kann. Viele der anderen Videos fand ich – sorry - schlicht langweilig. Beeindruckt haben mich aber die Videos und Installationen von Mona Hatoum (Libanon/London), auch von Igor und Svetlana Kopystiansky (Ukraine/Berlin/New York) sowie die Filme von Seifollah Samadian (Teheran). Seinen Film "Die weiße Station" von 1999 nennt der Katalogtext zunächst zurecht ein "poetisches filmisches Haiku", um aber am Ende wieder anfügen zu müssen: "Der Film ist vor allem ein stilles Zeugnis der postrevolutionären Veränderungen, die zu Lasten der Frauen gehen".

Doch zu vieles erinnerte mich an einen Besuch bei einem Freund in Berlin, als wir zufällig am damals verhüllten Reichstag vorbeikamen und darüber diskutierten. Ich fragte: Was siehst Du? Sieht das nicht eigentlich wie eine Baustelle aus? Und der Freund hatte das bejaht.

Die Documenta hätte sich auch der sozialen Probleme der Künstlerwelt annehmen können. So befinden sich auch die Künstler in Deutschland am unteren Ende der sozialen Skala. Die Lage wird sich eher noch verschlechtern und dazu wäre eine Konferenz sehr sinnvoll gewesen!

Ausgezeichneter Besucherdienst

Positiv ist anzumerken, dass der Besucherdienst auf der Documenta ausgezeichnet geschult ist, er kann wirklich alles, eben auch das Unerklärliche erklären, und obwohl die Documenta eben nicht das sinnenfrohe Kunstfest ist, das sie sein könnte.

So fahre ich doch mit reichlich gemischten Eindrücken nachhause, ich bin wohl nicht der einzige. Zum Beispiel findet die "Kunstzeitung" unter dem Titel "Ausgegrenzt":

"Unter rund 150 Beteiligten (rechnet man die Gruppenmitglieder hinzu) fünfmal die Malerei: Ist sie – Todesanzeigen hat es ja schon mehrfach gegeben – nun definitiv am Ende oder nur zeitweilig ins Abseits geraten? Weil Enwezor und sein Kuratorenteam zwar, was durchaus zu begrüßen ist, das Fremde, das sich außerhalb der "Westkunst" artikulierende Andere deutlich favorisieren, das sperrig spezifisch Andere autonomer Malerei jedoch nicht einbinden konnten – oder wollten? Der verbale Vor- beziehungsweise Überbau der Ausstellung – Interviews, "Plattform"-Texte, Essays im Hauptkatalog und "Kurzführer" – sieht die Malerei als Teil einer "epistemologischen Maschine". Im Verbund mit spontanen Erkundungen, Untersuchungen, Aktionen und der Auswertung von Statistiken, Archiven und Fragebögen ist sie beteiligt an der Wissensproduktion, die nun, "nach dem Imperialismus" (Enwezor), den weltweit beginnenden Prozess einer Neuorientierung forcieren soll. Wissen oder Erkenntnis dieses Zuschnitts aber kann und will die Malerei nicht liefern.

Die Fixierung auf bestimmte Phänomene ("die Schattenseiten der Globalisierung") und die Vorgabe der Perspektive schaffen einen Rahmen, in dem für solche Künstler offensichtlich kein Platz ist, die auf eigenem Terrain und nicht funktionalisiert neue Sehweisen installieren und dabei ihrer "inwendigen Figur" (Dürer), ihrer Vision folgen. Kann sich die Institution "Kunst" diese Ausgrenzung auf Dauer leisten? Bilder, daran sei noch einmal erinnert, gute Bilder liefern etwas ganz Bestimmtes, was außerhalb dieses Mediums nicht zu bekommen ist und das zur Zeit, da sich ein Großteil der Kunstproduktion um die Mega-Metapher der Gegenwart, um das "Prozesshafte" dreht, fast schon den Status einer Rarität erhält. Ihr Angebot nämlich besteht in der Fixierung spezifischer Momente der Wahrnehmung, in denen die Dinge der Welt in prototypischer Gestalt erscheinen. Ist derartige Kunst naiv, nostalgische Renitenz? Wohl kaum, sondern zu sehen als eine hochreflektierte, anti-naturalistische Geste. Solche Bilder ergreifen tiefenwirksam den Betrachter durch ästhetische Strategien. Sie evozieren das Kunst- bzw. Evidenzerlebnis und eine Ausschüttung der prächtigsten Endorphine.

Natürlich wird man die Möglichkeit zu existentiellen Erfahrungen dieser Art nicht leichtfertig im Orkus verschwinden lassen. Die Malerei, versichert Peter Iden in der "Frankfurter Rundschau", sei nicht tot: "In fünf Jahren wird man vielleicht darauf zurückkommen." – Sein Wort in Gottes Ohr!"

Trotz aller kritischen Worte: Sehenswert ist die Documenta allemal, sie besticht nicht zuletzt durch eine hervorragende Präsentation und das Engagement der Führer. Aber repräsentativ für alle Strömungen der Kunst der Welt, dafür darf man sie nicht halten. Sie kann allenfalls einen Ausschnitt, einen willkürlichen, bieten. Und wir malen einfach weiter.

Zitate

Ich meine, dass Kunst (bei der Documenta 11) zur bloßen Illustration von Politik und Soziologie verkommt, mehr noch: sie ist zuweilen nur noch Beiwerk von political correctness.

Wenn schon apodiktische Kunst-Maximen, dann jedenfalls nicht so platt, wie das bei vielen der Arbeiten auf der Documenta geschehen ist

Für mich spricht aus dem Gesamten der Documenta leider eine uralte Kunstfeindlichkeit in platonischer oder christlicher oder marxistischer Tradition, eine ausgesprochen calvinistisch anmutende Bilderfeindlichkeit:

Es scheint auch einen merkwürdigen Drang nach Banalitäten zu geben, so als ob viele Menschen nicht das Gefühl haben, wirklich zu leben, so, als ob das banale das einzig Reale wäre.

viele der Dinge, die dort zu sehen sind, müssen erst zur Kunst erklärt werden


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